AIDS, Ebola, Covid-19: Drei unterschiedliche Krankheiten, dennoch haben sie wichtige Gemeinsamkeiten. Erstens: Sie werden von Viren verursacht. Zweitens: Sie wurden ursprünglich von Tieren auf den Menschen übertragen. Diese Art von Krankheit bezeichnet man als Zoonose. Man kann sich leicht vorstellen, wie eine Zoonose entsteht: Tier mit Virus beißt Mensch, Mensch wird krank und steckt andere Menschen an. Der tatsächliche Weg eines Virus vom Tier zum Menschen kann wesentlich komplizierter sein. Für das HI-Virus (HIV) konnte dieser Weg mittlerweile aufgeklärt werden. HIV steht für Humanes Immundefizienz-Virus. Dieses Virus verursacht die Immunschwächekrankheit AIDS. Das Virus wurde 1984 zum ersten Mal nachgewiesen. Einige Jahre, nachdem eine erste AIDS-Erkrankung beschrieben worden war. Und zwar 1981, in Los Angeles. Wir folgen heute dem langen Weg des Virus.
Ein neues Virus schockiert die Welt
Der Befund war irritierend: Fünf bis dahin gesunde junge Männer erkrankten in Los Angeles innerhalb kurzer Zeit an einer Lungenentzündung. Doch es war keine normale Lungenentzündung. Sie wurde durch einen Pilz verursacht, und diese Art der Lungenentzündung kommt sehr selten vor, und wenn dann nur bei Menschen mit stark geschwächtem Immunsystem. Aber sicherlich nicht bei jungen Männern, die bis dahin als fit und gesund galten. Im Nachhinein wurde klar, das dies die ersten beschriebenen Fälle einer AIDS-Erkrankung waren. Und natürlich waren diese Männer nicht gesund, sondern litten an der Immunsschwäche-Erkrankung im fortgeschrittenen Stadium. 1984 wurde schließlich das HI-Virus als Auslöser von AIDS identifiziert, 1985 wurde ein Bluttest zum Nachweis eingeführt. In den 1980er und 90er Jahren breitete sich AIDS immer weiter aus und es begann die fieberhafte Suche nach einer Therapie – und nach dem Ursprung der Krankheit.
Schnell wurde klar, dass die Krankheit nicht erst 1981 entstanden sein konnte, sondern sich bereits seit 10 oder mehr Jahren in den USA unbemerkt ausgebreitet haben musste. Denn die Inkubationszeit, also die Zeit zwischen Infektion und Ausbruch der Krankheit, beträgt bei AIDS ca. 10 Jahre. Die Patienten, bei denen in den 80er Jahren AIDS nachgewiesen wurde, mussten sich also bereits in den 70er Jahren angesteckt haben. Aber woher kam das Virus? Eine erste Antwort auf diese Frage fand man in Affen. In Schimpansen entdeckten Wissenschaftler eine Krankheit mit ähnlichen Symptomen wie bei AIDS. Auch diese Erkrankung wurde von einem Virus ausgelöst, SIV genannt. Die Abkürzung SIV steht für Simianes Immundefizienz-Virus, und SIV hatte eine auffällige Ähnlichkeit mit HIV. Bei der AIDS-Erkrankung könnte es sich also um eine Zoonose handeln. Das SI-Virus könnte vom Affen auf den Menschen übertragen worden sein, anschließend könnte sich HIV entwickelt haben. Aber diese Übertragung konnte kaum in den USA stattgefunden haben. Die Wissenschaftler konzentrierten sich bald auf Afrika. Schließlich ist das der natürliche Lebensraum für eine Vielzahl von Menschenaffen, wie z.B. Gorillas oder Schimpansen. Dort wollten Sie die Antwort finden, doch es sollte eine sehr komplexe Antwort werden.
Schimpansen und andere Affen
Wissenschaftler untersuchten Schimpansen in Äquatorialafrika auf das SI-Virus. Übrigens nicht über Blutproben, das war einfach nicht machbar. Man kann Schimpansen nicht ohne Gefahr für Leib und Leben Blut abnehmen, schon gar nicht in freier Wildbahn. Die Wissenschaftler untersuchten den Kot der Tiere. Den konnte man einfach vom Boden aufsammeln. Dabei kam heraus, dass vor allem Schimpansen im Süden Kameruns mit einer SIV-Art infiziert waren, die große Ähnlichkeit zu HIV hatte. Aber auch in Gorillas wurden die Wissenschaftler fündig. Und in einer weiteren Affenart, den Rußmangaben. Weitere Forschungen ergaben schließlich ein sehr komplexes Bild: Die AIDS-Erkrankung ist tatsächlich eine Zoonose. Die HI-Viren des Menschen stammen ursprünglich von SIV ab, das Virus wurde von Affen auf den Menschen übertragen. Und zwar nicht nur ein einziges Mal. Insgesamt gab es zwölf solcher Ereignisse. Zwölfmal wurden SI-Viren übertragen, daraus entwickelten sich verschiedene mehr oder weniger erfolgreiche HIV-Stämme. Übertragen wurden die Viren von Schimpansen, Gorillas und von den Rußmangaben. Wobei der erfolgreichste HIV-Stamm, der HIV-1 M-Stamm, ursprünglich vom Schimpansen stammt. Wahrscheinlich kam es noch viel öfter zu Übertragungen. Aber diese zwölf Übertragungen führten zur Entstehung von HIV-Stämmen, die heute nachweisbar sind.
Wie kann man sich eine solche Übertragung vorstellen? In diesen Regionen Afrikas wird Affenfleisch gegessen. Die Übertragung könnte also bei der Zubereitung von Affenfleisch passiert sein, oder bei der Jagd auf Affen. Zum Beispiel durch den Biss eines infizierten Tieres. Der Ursprung des Virus konnte also aufgeklärt werden: In Kamerun oder Umgebung haben es SIV-infizierte Affen auf den Menschen übertragen. Eine weitere Frage war noch unbeantwortet: Wann fand die Übertragung statt? Soviel war bekannt: In den USA ist das Virus bzw. die von ihm verursachte AIDS-Erkrankung zum ersten Mal zu Beginn der 1980er festgestellt worden. Rechnet man eine Inkubationszeit von 10 Jahren ein, dann muss das Virus bereits zu Beginn der 1970er Jahre in den USA verbreitet worden sein. Und man wusste, dass der Ursprung in einer bestimmten Region Afrikas lag. Aber wann sprang das Virus auf den Menschen über?
Von Kinshasa nach New York
Man untersuchte alte Blutproben auf HIV und wurde fündig. In einer Blutprobe aus Kinshasa in Afrika aus dem Jahr 1959 konnte das Virus nachgewiesen werden. Weiter zurück konnte man mit diesem Verfahren nicht gehen. Es gab keine noch älteren Proben, die man hätte untersuchen können. Deshalb verwendeten Wissenschaftler das Erbgut des Virus als molekulare Uhr. Bei der Vermehrung von HI-Viren kommt es häufig zu Mutationen, also Erbgutveränderungen. Und diese Mutationen treten in einer gewissen Regelmäßigkeit auf. Durch die Analyse vieler Erbgutsequenzen konnte ungefähr bestimmt werden, vor wie vielen Jahren das Virus den Sprung auf den Menschen gemacht hatte. Das Ergebnis war überraschend: Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass dies bereits zu Beginn der 20. Jahrhundert stattfand, also 70 bis 80 Jahre bevor das Virus und die davon ausgelöste AIDS-Erkrankung zunächst in den USA und dann weltweit wahrgenommen wurde. Was passierte in den 70 Jahren zwischen ca. 1910 und 1982? Wahrscheinlich gab es immer wieder SIV-Übertritte vom Affen auf den Menschen. Aber in Gegenden, die isoliert waren. Ein Jäger, der sich damit angesteckt hatte, konnte es entweder erfolgreich bekämpfen, oder er starb früher oder später daran. Und das Virus mit ihm. Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden immer mehr bisher isolierte Regionen in Afrika an Verkehrsnetze angeschlossen. Eine zentrale Rolle bei der Verbreitung des HI-Virus spielte wohl die Stadt Kinshasa in der heutigen demokratischen Republik Kongo. Der Kongo Fluss, der durch Kinshasa fließt, wurde in den 1920er und 30er Jahren eine bedeutende Verkehrsachse, die entlegene Regionen mit der Stadt verband. Auch das Eisenbahnnetz wurde immer besser ausgebaut. Über diesen Weg gelangte wohl eine infizierte Person in die Stadt. Und sie trug eine Version von SIV in sich, die durch Mutationen bereits gut an den Menschen angepasst war. Eine Urform von HIV. In der Stadt und in der Region breitete sich das Virus in den nächsten 20 bis 30 Jahren aus. Eine Rolle könnte dabei auch ein Impfprogramm in den 1950er Jahren gegen Hepatitis gespielt haben. Dabei wurde Spritzen mit unsterilen Nadeln mehrfach wiederverwendet. Optimale Voraussetzungen zur Ausbreitung des Virus. Warum viel das nicht auf? Die Krankheitssymptome von AIDS sind sehr unspezifisch, die Patienten sterben ja nicht direkt an dem Virus, sondern an eigentlich harmlosen Infektionen. Das Virus schwächt das Immunsystem und öffnet damit die Türen für andere Erreger. Deshalb wurde eine AIDS-Erkrankung lange Zeit nicht als solche erkannt. Im Kongo waren Gastarbeiter aus Haiti tätig. Diese brachten das Virus in den 1960er Jahren nach Haiti und es breitete sich in der Karibik aus. Von Haiti gelangte es um das Jahr 1970 herum nach New York und von dort nach Los Angeles. Diese beiden Städte waren zu Beginn der Pandemie Hotspots der HIV-Infektionen in den USA. Und von diesen Drehscheiben verbreitete sich das Virus schließlich in der ganzen Welt, vor allem über den Flugverkehr. Ein weiter Weg: Begonnen hat es um 1910 im afrikanischen Urwald, in den 1970er Jahren kam es dann nach und nach zu einer weltweiten Ausbreitung, ohne dass es jemand bemerkt hatte. Und als man zu Beginn der 1980er Jahre AIDS als Krankheit erkannte, war es bereits eine weltweite Pandemie.
Gute Zeiten für Zoonosen
Die Wissenschaft brauchte über 30 Jahre, um den Weg des Virus um die Welt zu rekonstruieren. Es ist erstaunlich, dass die Geschichte von HIV bereits vor über 100 Jahren begann, wahrscheinlich im Urwald von Kamerun oder der heutigen demokratischen Republik Kongo. Der Weg aus dem Tierreich auf den Menschen ist für jede Zoonose sehr individuell. Und doch kann man einige allgemeine Schlussfolgerungen aus der HIV-Geschichte ziehen: Das Virus trat mehrfach auf den Menschen über. Aber erst durch die zunehmende Vernetzung und durch das Bevölkerungswachstum zu Beginn des 20. Jahrhunderts, schaffte es das Virus sich dauerhaft im Menschen zu etablieren und auszubreiten. In der heutigen Zeit ist die weltweite Vernetzung noch viel ausgeprägter. Und im Jahr 2020 leben fünfmal mehr Menschen auf der Welt als im Jahr 1920, nämlich knapp 8 Milliarden. Damit dringt der Mensch immer mehr in die Lebensräume der Tiere ein. Und damit steigt die Wahrscheinlichkeit für die Übertragung bislang unbekannter Krankheitserreger auf den Menschen. Durch die Globalisierung kann sich ein neuer Erreger sehr schnell weltweit ausbreiten. Dies konnte man erst kürzlich bei der Ausbreitung der Covid-19-Pandemie beobachten.
Diese Schlussfolgerungen sind kein Grund zur Panik, aber Wissenschaftler und Politiker weltweit müssen wachsam sein und die Weltgemeinschaft bestmöglich auf neue Krankheitserreger vorbereiten. Der Kampf gegen die AIDS-Pandemie ist noch nicht gewonnen. Es gibt nach wie vor keinen wirksamen Impfstoff. Glücklicherweise kann das Virus durch eine medikamentöse Therapie in Schach gehalten werden. Die Patienten können dadurch ein relativ normales Leben führen. Sofern sie Zugang zu diesen Medikamenten haben. Das ist in vielen Weltregionen nicht gewährleistet. Und so sterben auch heute noch viele Menschen an der Immunschwächekrankheit AIDS.
Zur Podcastfolge (mit Quellenangaben)