Vor gut 100 Jahren untersuchte der amerikanische Wissenschaftler Peyton Rous ein Huhn mit einem Tumor. Das klingt nicht allzu spannend. Wen interessieren schon Geschwulste bei Hühnern? Es sollte über ein halbes Jahrhundert vergehen, bis die bahnbrechende Bedeutung dieser Forschungen erkannt wurde. Denn Peyton Rous legte mit seiner Arbeit den Grundstein dafür, die Ursache von Krebserkrankungen aufklären zu können. Und zwar nicht nur bei Hühnern, sondern auch beim Menschen.
Krebs durch Viren?
Alles fing mit dem Huhn und dem Tumor an. Und der überraschenden Erkenntnis, dass der Tumor auf andere Hühner übertragen werden konnte. Fast wie eine Infektionskrankheit. Peyton Rous überführte kleine Teile des Tumors in andere Hühner. Und auch dort wuchsen neue Tumore heran. Doch wie kam es dazu? Die naheliegende Erklärung war, dass bei dem Verfahren Tumorzellen übertragen wurden. Diese Zellen mussten sich im neuen Tier einfach vermehren und fertig war der neue Tumor. Rous überprüfte die Hypothese, indem er aus Teilen des ursprünglichen Tumors einen Extrakt herstellte, der keine Zellen mehr enthielt. Dafür gab er den Extrakt durch einen Filter mit sehr kleinen Poren. Der Filter war so fein, dass sogar Bakterienzellen zurückgehalten wurden. Der Extrakt war also komplett frei von Zellen. Keine Tumorzellen bedeutet kein Tumor, so die Hypothese. Er injizierte den Extrakt in Hühner und untersuchte sie nach einiger Zeit. Das Ergebnis dieser Untersuchungen verblüffte ihn: in den Versuchstieren bildeten sich trotzdem Tumore aus.
Irgendetwas in dem Extrakt, viel kleiner als Zellen, löste die Tumore aus. Alles deutete auf Viren hin. Wobei Virus in dieser Zeit ein eher abstraktes Konzept war. Niemand wusste, was ein Virus eigentlich war. Nur das es sehr klein sein musste, vielleicht sogar eine Flüssigkeit. Und dass Viren Krankheiten auslösen konnten. Viren konnte man damals nur indirekt nachweisen. Sie waren nicht über ein Lichtmikroskop sichtbar, im Gegensatz zu Bakterien oder anderen Zellen. Woher wusste man dann, dass es Viren gab? Durch das Verfahren, das Rous verwendet hatte: Man gab eine Flüssigkeit mit infektiösem Material durch einen sehr feinen Porzellanfilter. Die Poren waren so klein, dass keine Bakterien durchtreten konnten. Danach untersuchte man, ob die filtrierte Flüssigkeit immer noch die Krankheit auslösen konnte. Wenn dies der Fall war, konnten es keine Bakterien oder andere Zellen sein. Stattdessen musste es ein Virus sein. So wurden Viren definiert. Krankheitserreger, die durch einen feinen Porzellanfilter treten können.
An diesem Punkt kam Rous nicht weiter. Wie konnte man etwas näher untersuchen, von dem man nicht einmal wusste, was es eigentlich war? Erst Jahrzehnte später wurden elektronenmikroskopische Verfahren entwickelt, mit denen Viren sichtbar gemacht werden konnten. Peyton Rous wandte sich anderen Forschungsthemen zu. Und das Huhn mit dem Tumor und dem Virus geriet in Vergessenheit.
Die Entdeckung von Krebsgenen
In den nächsten Jahrzehnte wurden Viren von einer Hypothese zur Gewissheit. Und zu einem neuen Forschungsfeld. Für verschiedene Krankheiten wurden Viren als Erreger nachgewiesen und das von Rous entdeckte Tumor-Virus, auch Rous-Sarkom-Virus genannt, kurz RSV fand wieder Beachtung. In vielen anderen Tierarten wurde tumorauslösende Viren gefunden, z.B. in Vögeln, Mäusen, Kaninchen und auch Pferden. Die große Frage war: Wie lösen Viren die Zellwucherungen aus und gibt es einen Zusammenhang mit Krebserkrankungen beim Menschen. Erst in den 1960er und 70er Jahren waren Labormethoden verfügbar, um die Funktionsweise dieser Viren aufzuklären. Das Rous-Sarkom-Virus, also RSV war im Zentrum dieser Untersuchungen. Wissenschaftler erforschten RSV-Mutanten mit veränderten Eigenschaften. Eine Variante hatte die Fähigkeit verloren, Tumore in Hühnern auszulösen. Zellen infizieren und sich vermehren konnten diese Viren aber nach wie vor. Offenbar war die Fähigkeit, Tumore auszulösen unabhängig von der Virusvermehrung. Dies führte zur Hypothese, dass ein Gen im Erbgut des Virus für die Tumorauslösung verantwortlich war. Und das dieses Gen in der Virusvariante durch eine Mutation zerstört worden war, weshalb kein Tumor mehr ausgelöst wurde.
Die Suche nach dem Gen begann. Schließlich wurde man fündig. Das sogenannte src-Gen war der Tumorauslöser. Dieses Gen ist eines von insgesamt nur vier Genen im Erbgut von RSV. Die anderen Gene sind typische Virusgene, die für die Vermehrung des Virus notwendig sind. Das src-Gen dagegen ist ein Exot, es kommt in keinem anderen Virus vor. Es hat auch nicht direkt etwas mit der dem Überleben des Rous-Sarkom-Virus zu tun. Auch ohne dieses Gen kann sich RSV in Zellen vermehren und wird weiterverbreitet. Wo also hatte das Gen seinen Ursprung? Kam das Gen vielleicht ursprünglich sogar aus dem Huhn? Diese Hypothese wurde untersucht und zur großen Überraschung wurde sie bestätigt: Das Hühnererbgut enthält ein Gen mit großer Ähnlichkeit zum viralen src-Gen. Bis zu diesem Punkt könnte man das Ganze als nettes, aber eher exotisches Forschungsprojekt abtun. Wie sollte diese Forschung dem Menschen nutzen? Doch neue Erkenntnisse änderten diese Sichtweise. Denn man fand das zelluläre src-Gen, also ein Tumorgen, nicht nur im Erbgut von Hühnern. Sondern in praktisch allen anderen untersuchten Tieren – auch im Menschen. Jede menschliche Zelle trägt das src-Gen. Ein Gen das unter bestimmten Umständen die Bildung von Tumoren auslösen kann. Doch wie kam das Gen von der Hühnerzelle in das Virus. Und wie löst es die Bildung von Tumoren in Hühnern aus?
Vom Virus zum Krebsvirus
RSV gehört zur Gruppe der Retroviren. Das bekannteste Retrovirus ist wohl das HI-Virus, also HIV, das die Immunschwächekrankheit AIDS verursacht. Auch andere Tumorviren gehören zu dieser Gruppe. Retroviren haben ein RNA-Erbgut. Dieses wird während der Virusinfektion in eine Körperzelle übertragen. Dort wird das RNA-Erbgut in DNA umgeschrieben und in das Erbgut der Zelle eingebaut. Die Zelle kann in der Folge praktisch virenfrei sein, dennoch befindet sich die Virus-DNA im Erbgut der Zelle und wird bei jeder Zellteilung auf die Tochterzellen übertragen. Zur Vermehrung des Retrovirus wird das Viruserbgut in Form von RNA kopiert. Es werden Virusproteine hergestellt und zusammen mit dem RNA-Erbgut entstehen neue Retroviren. Diese verlassen die Zelle und suchen sich ein neues Ziel. Die spezielle Lebensweise der Retroviren kann erklären, wie das zelluläre src-Gen einst in ein Virus gelangt ist. Das Viruserbgut wird zufällig an irgendeiner Stelle in die DNA der Zelle eingebaut. Und zufälligerweise wurde es auch einmal direkt neben dem zellulären src-Gen eingebaut. Bei der Bildung der neuen Virus-RNA wurde nun aus Versehen auch das src-Gen mit kopiert und anschließend in das neue Retrovirus verpackt. Die daraus entstehenden neuen Viren enthielten nun ein Gen zu viel, nämlich das zelluläre scr-Gen. Das ist zwar eine vereinfachte Betrachtung, doch so könnte das Rous-Sarkom-Virus einst entstanden sein. Durch einen Reihe genetischer Zufälle und Unfälle. Mit fatalen Folgen für die Gesundheit von Hühnern.
Doch warum verursacht das virale src-Gen Tumore, also die unkontrollierte Vermehrung von Zellen. Dabei kommt doch das src-Gen in jeder Zelle natürlicherweise vor und verursacht dort keine Probleme. Wie unterscheidet sich das virale src-Gen von der Version, die in den Zellen vorliegt? Betrachten wir zunächst die Funktion des zellulären Gens. Es enthält den Bauplan für ein Protein, das die Zellteilung anregt. Und das ist in vielen Fällen durchaus erwünscht. Für die Entwicklung einer befruchteten Eizelle zum Embryo und zum ausgewachsenen Tier sind unzählige Zellteilungen notwendig. Oder um verletztes Zellgewebe zu erneuern. Oder generell für die Instandhaltung des Körpers. Zellen müssen sich teilen, damit sich ein Tier entwicklen und überleben kann. Für diese kontrollierte Zellteilung ist unter anderem das SRC-Protein zuständig. Die Betonung liegt hier auf „kontrolliert“. Denn eine unkontrollierte Zellteilung kann schnell gefährlich werden. Es kann zur Bildung von Tumoren kommen, und wenn sich diese Tumore im Körper ausbreiten entsteht eine lebensgefährlichen Krebserkrankung. Und genau das wird durch das virale SRC-Gen ausgelöst. Dabei enthält es den gleichen Bauplan wie die zelluläre Version. Den Bauplan für ein Protein, dass die Zellteilung anregt. Wo liegt der Unterschied? Warum ist das SRC-Protein einmal nützlich und einmal lebensbedrohlich? Die Antwort: Es liegt an der Menge. Das virale src-Gen bewirkt eine übermäßige Herstellung des Proteins. Betrachten wir die Folgen. Das Rous-Sarkom-Virus infiziert eine Zelle indem es sein RNA-Erbgut überträgt. Die RNA wird in DNA umgeschrieben und in das Erbgut der Zelle eingebaut. Damit gelangt das virale SRC-Gen in die Zelle. Dieses Gen ist hyperaktiv, es wird sehr oft abgelesen. Deswegen werden große Mengen des SRC-Proteins hergestellt. Und diese übermäßig vielen SRC-Proteine regen die Zellteilung nicht nur ein wenig an. Sie schalten den Turbo ein, die Zellen teilen sich viel zu oft. Auch die Tochterzellen machen damit weiter, stellen viel zu viel SRC-Protein her und teilen sich viel zu oft. Und so weiter. Bis ein Tumor, eine Zellwucherung entsteht, mit möglicherweise fatalen Folgen.
Tumorbildung ohne Virus
Auf der einen Seite ist das zelluläre src-Gen ein harmloses Gen, das für das normale Funktionieren von Zellen notwendig ist. In einem Retrovirus wird es zur tödlichen Gefahr für das Lebewesen, weil die Proteinmenge nicht richtig kontrolliert wird. Allerdings werden bei weitem nicht alle Tumorerkrankungen durch Viren ausgelöst werden. Auch ohne Tumorviren entstehen Tumore. Beim Menschen sind nur sehr wenige Tumorviren bekannt. Wie bilden sich dann die vielen anderen Tumore aus, wenn nicht durch Viren? Diese Frage stellte man sich, und eigentlich lag die Antwort auf der Hand.
Das src-Gen bzw. das davon codierte Protein regt Zellen zur Vermehrung an. Das Protein ist eingebunden in ein engmaschiges Kontrollsystem, um zu steuern, wann sich Zellen teilen und wann nicht. Eine übermäßige Herstellung des Proteins führt zu einer übermäßigen Zellteilung und trägt zur Bildung von Tumoren bei. Das hat man vom Rous-Sarkom-Virus gelernt. Doch für diesen Effekt ist nicht unbedingt ein Virus notwendig. Denn das src-Gen kommt in jeder Körperzelle vor, auch in menschlichen Zellen. Und Mutationen, also DNA-Veränderungen können die Menge des zellulären SRC-Protein massiv steigern. Damit ist der Weg zum Tumor geebnet. Andere Mutationen im SRC-Gen können das Protein aus dem engmaschigen Kontrollsystem nehmen. Es regt dann ständig die Zellteilung an, auch wenn dies eigentlich gar nicht sinnvoll ist. Mutationen im Erbgut einer Körperzelle können aus dem harmlosen src-Gen ein Tumorgen machen. Und aus einer normalen Zelle eine Krebszelle. Und im schlimmsten Fall genügt eine einzige so entartete Zelle, um eine lebensbedrohliche Krebserkrankung auszulösen. Durch die Untersuchung anderer Tumorviren wurden weitere Tumorgene entdeckt. Und viele dieser Tumorgene kommen als harmlose Variante im menschlichen Erbgut vor. Mutationen können auch aus diesen harmlosen Genen Tumorgene machen. Und aus normalen Körperzellen entstehen so Krebszellen, die Tumore ausbilden. Ganz ohne den Einfluss von Tumorviren, die von außen die Zellen angreifen. Wobei in der Regel nicht eine einzige Mutation ausreicht, um eine Krebszelle entstehen zu lassen. Dafür muss eine Reihe von Mutationen in verschiedenen Gene geschehen. Die mutierten Gene, die Tumore verursachen können, nennt man Onkogene, also Krebsgene. Die harmlosen, unmutierten Gene sind sogenannte Protoonkogene.
Durch die Untersuchung von Tumorauslösenden Viren in Hühnern legte Peyton Rous vor über 100 Jahren den Grundstein zum Verständnis von Krebserkrankungen beim Menschen. Krebs ist eine genetische Erkrankung. Sie wird durch die Mutation körpereigener Gene ausgelöst. Dadurch entstehen Onkogene und diese codieren für Proteine, die eine Zelle zur übermäßigen Teilung anregt und damit zur Bildung eines Tumors. In seltenen Fällen werden Tumore auch durch Retroviren ausgelöst. Indem sie ein Onkogen in eine Zelle übertragen und diese dadurch zur Tumorzelle machen. So wie bei dem Huhn, dass Peyton Rous Anfang des 20. Jahrhunderts untersuchte. Die Bedeutung seiner Untersuchungen wurde lange Zeit nicht erkannt. Erst über ein halbes Jahrhundert nach diesen Forschungsarbeiten wurde Peyton Rous mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Im Alter von 87 Jahren, drei Jahre vor seinem Tod. Bei keinem Nobelpreisträger war die Zeitspanne zwischen Entdeckung und Nobelpreis länger. Und zunächst war es ja auch nicht absehbar, dass ein Huhn mit einem Tumor die Entstehung von Krebserkrankungen beim Menschen erklären würde.
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