Virus oder kein Virus
Man muss den Feind kennen, um ihn bekämpfen zu können. Das gilt besonders für Infektionskrankheiten. Über Jahrtausende waren die Auslöser dieser Krankheiten unbekannt. Deshalb war es schwierig bis unmöglich, wirksame Therapien zu entwickeln. Dies änderte sich erst Ende des 19. Jahrhunderts mit der Keimtheorie. Wissenschaftler konnten zeigen, dass viele Krankheiten durch mikroskopisch kleine Organismen ausgelöst werden, vor allem von Bakterien. Später wurden auch Viren als Krankheitserreger erkannt. Darauf aufbauend konnten wirksame Therapien und Impfungen entwickelt werden. Doch die Suche nach den verantwortlichen Krankheitserregern war nicht frei von Irrtümern, Fehleinschätzungen und Sackgassen. Wir folgen den verschlungenen Wegen, die zur Entdeckung der Erreger der Grippe und der Legionärskrankheit führten.
Ein Bazillus verursacht die Grippe?
Die erste Welle der Grippe-Pandemie im Jahr 1918 war harmlos. Wissenschaftler auf der ganzen Welt waren nicht allzu beunruhigt. Schließlich kannte man den Grippeerreger: Ein Bakterium namens Bacillus influenzae. Verschiedene Labore arbeiteten an einem Impfstoff gegen dieses Bakterium und damit gegen die Grippe. Man sah sich gewappnet, doch die Sicherheit war trügerisch. Die zweite Welle im Herbst und Winter 1918 schwappte mit brutaler Wucht über die ganze Welt. Die entwickelten Impfstoffe waren kaum wirksam. Insgesamt 50 Millionen Menschen fielen der Spanischen Grippe weltweit zum Opfer, immerhin fünfmal mehr Opfer als die Kämpfe des ersten Weltkriegs forderten. Die Impfstoffe konnten auch gar nicht wirken, schließlich wird die Grippe von Viren ausgelöst, und nicht von einem stäbchenförmigen Bakterium. Doch zu dieser Erkenntnis kam man erst lange nach der spanischen Grippe, in den 1930er Jahren. Wie kam es zu dieser Fehleinschätzung?
Gehen wir einige Jahre zurück. In den 1880er und 1890er Jahren gab es große Durchbrüche bei der Erforschung von Infektionskrankheiten. Die Keimtheorie wurde entwickelt. Sie besagt, dass Krankheiten von mikroskopisch kleinen Bakterien ausgelöst werden. Und nicht von schlechter fauliger Luft, dem sogenannten Miasma, das jahrhundertelang als Auslöser von Krankheiten galt. Die Mikrobiologen Louis Pasteur und Robert Koch lieferten sich einen Wettstreit um die Entdeckung neuer Krankheitserreger, die die Auslöser altbekannter und gefürchteter Krankheiten waren. Innerhalb weniger Jahre konnte nachgewiesen werden, dass z.B. die Cholera, die Pest, Diphterie, Milzbrand und viele weitere Krankheiten durch Bakterien ausgelöst werden. Auch wurden wirksame Impfungen gegen verschiedene Krankheiten entwickelt. Der wissenschaftliche Zeitgeist war ganz klar auf Bakterien ausgerichtet.
Im Jahr 1892 gab es wiedermal eine Grippepandemie, allerdings bei weitem nicht so tödlich wie die spanische Grippe 25 Jahre später. Warum sollte man jetzt nicht auch den Verursacher der Grippe identifizieren, nach all den großen Entdeckungen der letzten Jahre? Der Mikrobiologie Richard Pfeiffer meldete den Durchbruch. Er arbeitete im renommierten Labor von Robert Koch. Und er hatte den Erreger der Grippe identifiziert: Ein stäbchenförmiges Bakterium, Bacillus influenzae oder Pfeiffersches Bazillus genannt. Dieses Bakterium konnte er aus den Lungen von Grippepatienten isolieren und im Labor vermehren. Die Entdeckung reihte sich ein in die Entdeckungen der letzten Jahre. Also wird die Grippe auch durch Bakterien verursacht – keine große Überraschung. Es gab zwar einige kritische Stimmen, die die Ergebnisse anzweifelten. Doch weitere tiefergehende Forschungen konnte man nicht mehr anstellen, da die Pandemie zu Ende ging. Es gab keine Grippepatienten mehr und damit auch kein Probenmaterial für weitere Forschungen. Es war Konsens in der Wissenschaft, dass das Bakterium Bacillus influenzae die Grippe auslöst. Die Erkrankung trat in den Folgejahren wieder als normale und relativ harmlose saisonale Grippe auf. Bis zur spanischen Grippe im Jahr 1918. Die Krankheit war mit bisher nicht gekannter Wucht zurück. Und die Zweifel am Pfeiferschen Bazillus als Auslöser mehrten sich.
Eine neue Hypothese
Mehrere Wissenschaftler wurden stutzig. Denn das Bakterium war bei weitem nicht in allen Grippepatienten nachweisbar. Aber widersprach das nicht der Hypothese, dass Bacillus influenzae der Auslöser war? Der Fehler wurde eher bei den Wissenschaftlern gesucht. Das Bakterium war nun mal schwer zu kultivieren. Man benötigte sehr spezielle Bedingungen und viel Erfahrung, um es zum Wachsen zu bringen. Vielleicht mangelte es manchen Wissenschaftlern ja am handwerklichen Können und an Erfahrung. Schließlich war Bacillus influenzae bereits 25 Jahren zuvor als Auslöser der Grippe nachgewiesen worden. Doch die Zweifel wurden stärker. In einer Studie wurde das Bakterium z.B. nur bei 23 % Prozent der untersuchten Grippe-Patienten nachgewiesen. Dafür trug aber ein Drittel einer gesunden Vergleichsgruppe das Bakterium in sich – ohne jegliche Symptome. Mehr und mehr Wissenschaftler kamen zur Überzeugung, dass der Bazillus nicht der Auslöser der Grippe sein konnte. Stattdessen gab es eine neue vielversprechende Hypothese: der Krankheitserreger könnte ein Virus sein. Wobei „Virus“ in dieser Zeit ein eher abstraktes Konzept war. Niemand wusste, was ein Virus eigentlich war. Nur das es sehr klein sein musste, vielleicht sogar eine Flüssigkeit. Und dass Viren Krankheiten auslösen. Viren konnte man damals nur indirekt nachweisen. Sie waren nicht über ein Lichtmikroskop sichtbar, im Gegensatz zu Bakterien. Woher wusste man dann, dass es Viren gab? Durch folgenden Versuch: Man gab eine Flüssigkeit mit infektiösem Material durch einen sehr feinen Porzellanfilter. Die Poren waren so klein, dass keine Bakterien durchtreten konnten. Danach untersuchte man, ob die filtrierte Flüssigkeit immer noch die Krankheit auslösen konnte. Wenn dies der Fall war, konnten es keine Bakterien sein. Stattdessen musste es ein Virus sein. So wurden Viren definiert: Krankheitserreger, die durch einen feinen Porzellanfilter treten können. Bisher kannte man einige Tier- und Pflanzenkrankheiten, die durch diese mysteriösen Krankheitserreger verursacht wurden. 1918 gab es erste Untersuchungsergebnisse, die auf Viren als Auslöser der Grippe hindeuteten. Doch die Vorgehensweise der beteiligten Wissenschaftler war umstritten und sie lieferten keinen überzeugenden Beweis. Die Pandemie der spanischen Grippe ebbte schließlich ab und der Erreger blieb verborgen. Erst in der 1930er Jahren konnte das Rätsel schließlich gelöst werden. –
Eier und Frettchen
Dabei halfen zwei wichtige Fortschritte in der Influenza-Forschung. Kurzgefasst: Eier und Frettchen. Bisher konnte der Grippeerreger nur zu Pandemiezeiten erforscht werden. Dann gab es genug Patienten, die den Erreger in sich trugen. In Zeiten der normalen saisonalen Grippe war die Forschung viel schwieriger. Es gab weniger Patienten und die Unterscheidung zwischen Erkältung und echter Grippe war nicht einfach. Doch Wissenschaftler fanden einen Weg, wie man die Erreger außerhalb des Körpers vermehren konnte: Indem man Hühnereier infiziert. Darin vermehrten sich die Erreger und so konnten sie unabhängig von Grippepandemien untersucht werden. Auch heute noch werden Hühnereier genutzt, um den jährlichen Grippeimpfstoff herzustellen.
Zum Frettchen: Diese Tiere können mit dem Grippe-Erreger infiziert werden, und sie zeigen dann die typischen Symptome. Frettchen dienten als sogenanntes Tiermodell. Eine wichtige Voraussetzung für die Erforschung von Infektionskrankheiten. Folgender Versuch brachte schließlich den Beweis: Infektiöser Schleim eines Grippepatienten wurde durch einen Porzellanfilter gegeben. Die durchgetretene Flüssigkeit, die jetzt frei von Bakterien war, wurde in ein Frettchen getröpfelt. Und das Frettchen erkrankte und zeigt typische Symptome. Ein Wissenschaftler, der das Frettchen untersuchte, wurde von dem Tier angeniest. Daraufhin erkrankte er an der Grippe. Schlussfolgerung: Der Grippeerreger war ein Virus .
Das Bakterium Bacillus influenzae ist heute unter dem Namen Haemophilus influenzae bekannt. Auch wenn es ist nicht der Erreger der Grippe ist, gibt es dennoch eine enge Verbindung. Es gehört zu der Gruppe von Bakterien, die sogenannte Sekundärinfektionen bei Grippepatienten verursachen. In gesunden Menschen hat das Bakterium es schwer. Aber in geschwächten Patienten mit angegriffenen Schleimhäuten kann es durchstarten. Es löst dann schwere bakterielle Lungenentzündungen aus. Deshalb wurde es so zahlreich von Pfeiffer und anderen Wissenschaftlern in Patienten gefunden. Man geht davon aus, dass viele Grippeopfer der Spanischen Grippe an diesen Sekundärinfektionen starben. Schließlich gab es damals noch keine Antibiotika als wirksame Waffe gegen bakterielle Infektionen.
Das Bakterien über Jahrzehnte hinweg als Grippeerreger angesehen wurden, hat viele Gründe. Die Bakterienforschung war damals ungemein modern und erfolgreich. Viele Krankheiten konnten zum ersten Mal erfolgreich behandelt werden. Zudem war das Konzept des Virus noch sehr abstrakt und kaum verstanden. Es fehlten Labormethoden, die für die Erforschung von Viren notwendig sind. So konnte zwar in den 1930 Jahren das Grippevirus als Verursacher nachgewiesen werden, doch erst in den 1940er Jahren war es möglich, das Virus durch neue elektronenmikroskopische Verfahren auch sichtbar zu machen. Das Bakterium Haemophilus influenzeae konnte übrigens später auch etwas Positives zur biologische Forschung beitragen. Es war das erste Bakterium überhaupt, dessen genetischer Code, also die Reihenfolge der Basen in der DNA, vollständig gelesen werden konnte.
Mysteriöse Lungenentzündungen
Springen wir in das Jahr 1976. Die Spanische Grippe ist lange her und hat ihren Schrecken verloren. Es gab zwar weitere Pandemien, aber bei weitem nicht so brutal wie im Jahr 1918. Doch jetzt sind die amerikanischen Gesundheitsbehörden in Alarmbereitschaft. Sie sehen die Gefahr einer neuen Pandemie, ausgelöst durch die Schweinegrippe. Ein großes Impfprogramm wird aufgelegt, alle Amerikaner sollten sich impfen lassen. In dieser aufgeregten Zeit geschieht in Philadelphia etwas Beunruhigendes. Im Zusammenhang mit einem Veteranentreffen mit tausenden von Teilnehmern kommt es zu einer auffälligen Häufung von Lungenentzündungen. Über 200 Fälle werden gezählt, 34 der Betroffenen sterben. Ist das der Start der gefürchteten Grippepandemie? Lungenentzündungen sind schließlich typische Komplikationen einer Grippe-Erkrankung. Experten werden losgeschickt, um die Fälle zu untersuchen und um sofort Gegenmaßnahmen zur Bekämpfung der Grippe einzuleiten. Doch die ersten Untersuchungen zeigen schnell: Die Menschen sind nicht an der Grippe erkrankt. Es konnten keine Grippeviren nachgewiesen werden. Und die mysteriöse Lungenkrankheit war nicht von Mensch zu Mensch übertragbar, wie es typisch für die Grippe wäre. Das sorgte zunächst für Erleicherung. Aber nur für kurze Zeit. Denn die weiteren Untersuchungen waren besorgniserregend: Es konnte kein Krankheitserreger gefunden werden. Es waren wohl keine Viren. Aber auch Bakterien konnten nicht nachgewiesen werden, weder unter dem Mikroskop noch auf Nährmedium in Petrischalen. Meerschweinchen wurden mit potenziell infektiösem Material behandelt, um mögliche Krankheitserreger in ihnen zu züchten. Doch mikroskopische Untersuchen der Versuchstiere brachten kein Ergebnis, nur einige wenige Verunreinigungen, die wohl typisch für Meerschweinchen waren. Sogar Hühnereier wurden testweise infiziert, zusammen mit einem Antibiotikamix, um eine bestimmte Bakterienart nachzuweisen. Ohne Erfolg. Die Ursache der sogenannten Legionärskrankheit blieb rätselhaft. Es war nicht die Grippe, kein Virus, kein Bakterium, aber was war es dann? Der Wissenschaftler Joseph McDade war an den erfolglosen Untersuchungen beteiligt. Und er war frustiert. Im gingen die Verunreinigungen nicht aus dem Kopf, die er bei der Untersuchung der Meerschweinchen unter dem Mikroskop gesehen hatte. Monate nachdem die Untersuchungen ergebnislos abgeschlossen waren, holte er die Proben nochmal hervor. Die Verunreinigungen waren stäbchenförmige Bakterien, sehr wenige zwar, aber dennoch: Waren sie vielleicht die Erreger? Doch warum vermehrten sie sich nicht auf Agarplatten? Er wiederholte den Versuch mit den Eiern, doch er änderte das Protokoll. Er infizierte die Eier mit dem Probenmaterial, doch er ließ den vorgeschriebenen Antibiotikamix weg. Und jetzt funktionierte es. Er konnte das Stäbchenförmige Bakterium in großen Mengen vermehren. In weiteren Untersuchungen konnte er zeigen, dass Menschen die an der Legionärskrankheit erkrankt waren, in ihrem Blut Antikörper gegen diese Bakterien hatten. Ein starkes Indiz, dass diese Bakterien tatsächlich die Krankheitserreger waren. Die Legionellen wurden schließlich als Verursacher der Krankheit erkannt. Es waren also doch Bakterien. Doch warum es so schwer, die zu finden?
Wählerische Erreger
Legionellen brauchen sehr spezielle Wachstumsbedingungen. Ohne bestimmte Zusätze im Nährmedium bleibt das Wachstum aus. Das konnte man natürlich nicht wissen, bevor bekannt war, mit welchem Bakterium man es zu tun hatte. Außerdem sind die Bakterien unter dem Mikroskop schwer zu erkennen. Es mussten erst spezielle Färbemethoden entwickelt werden, um den Nachweis zu verbessern. Doch der Hauptgrund die Misserfolge dürfte in der sehr speziellen Lebensweise der Legionellen liegen. Ihr natürlicher Lebensraum ist Süßwasser, allerdings kommen sie dort selten frei im Wasser vor. Vielmehr nisten sie sich in anderen einzelligen Lebewesen ein, vor allem in Amöben. Dort vermehren sie sich. Von Zeit zu Zeit werden sie freigesetzt und dringen dann in andere Zellen ein. Deshalb sind sie so schwer nachweisbar. Sie verstecken sich in anderen Zellen. Aus demselben Grund sind sie auch für das Immunsystem schwer zu bekämpfen. Legionellen benötigen spezielle Temperaturbedingungen: Sie vermehren sich optimal zwischen 36 und 43 °C. Diese Bedingungen sind selten in der Natur zu finden, dafür häufig in Klimaanlagen oder in Rohrsystemen für Warmwasser. Wenn diese Anlagen schlecht gewartet werden, kann dies zur Vermehrung von Legionellen und zum Ausbruch der Legionärskrankheit führen. Es ist der Hartnäckigkeit Joseph McDades zu verdanken, dass sie schließlich doch als Krankheitserreger identifiziert werden konnten.
Betrachten wir zum Schluss, warum in den vorgestellten Fällen die Identifizierung der Krankheitserreger so schwierig war. Die Gründe sind sehr vielfältig, dennoch gibt es eine Gemeinsamkeit: Der wissenschaftliche Konsens schränkte die Sichtweite der Forscherinnen und Forscher ein. Beim Grippeerreger ging man davon aus, dass es sich um ein Bakterium handeln musste. Man forschte vor allem in diese Richtung und fand scheinbar auch Belege für die Hypothese. Viren als Krankheitserreger waren kaum erforscht, es fehlten die Labormethoden und das Verständnis, um Grippeviren als Auslöser zu erkennen. Im Fall der Legionellen ging man zunächst davon aus, dass es sich um Viren handeln müsste. Eine Grippepandemie stand vor der Tür, außerdem hatten Bakterien als Krankheitserreger seit der Einführung der Antibiotika viel von ihrem Schrecken verloren. Zudem waren Legionellen mit den gängigen Labormethoden kaum nachzuweisen. Am Ende waren die Wissenschaftler in beiden Fällen doch noch erfolgreich, wenn auch auf sehr verschlungenen Pfaden.
Die Idee für diesen Beitrag habe ich aus dem Buch „Das Jahrhundert der Pandemien“ von Mark Honigsbaum. Ein sehr lesenswertes Buch über die bekannten und weniger bekannten Pandemien der letzten 100 Jahre.
Zur Podcastfolge (mit Quellenangaben)