Für die 31 Patienten war es die letzte, verzweifelte Hoffnung. Sie litten an einer Form von Blutkrebs, der chronischen myeloischen Leukämie. Dabei wird der Körper von fehlgeleiteten weißen Blutkörperchen überflutet. Keine Therapie wirkte mehr, sie warteten auf den Tod. Die Patienten wurden im Rahmen einer Studie mit dem neuartigem Medikament Glivec behandelt. Die Ergebnisse waren sensationell: Nach nur einem Monat war die Anzahl der weißen Blutkörperchen bei fast allen Patienten wieder auf einem normalen Niveau. Diesem Erfolg aus dem Jahr 1998 gingen 40 Jahre intensiver Forschung voraus. Angefangen hatte alles im Jahr 1960, mit der Entdeckung des Philadelphia-Chromosoms …
Die Wissenschaftler Peter Novell und David Hungerford wollten die Ursache von Krebserkrankungen besser verstehen. Sie untersuchten Zellen von Patienten mit chronischer myelotischer Leukämie, einer Krebsart, die praktisch nicht behandelbar war. Hungerford war der Experte fürs Mikroskopieren. Er untersuchte unzählige Zellproben, verglich gesunde mit kranken Zellen. Und ihm viel etwas auf. In vielen Krebszellen war eines der 46 Chromosomen kleiner als in den gesunden Zellen. So als ob ein Stück DNA weggebrochen wäre (Abb. 1). Novell und Hungerford stellten die Hypothese auf, dass das mutierte Chromosom für die Erkrankung verantwortlich ist. Die meisten ihrer Kollegen zweifelten diese Hypothese an. Was soll denn bitte DNA mit Krebs zu tun haben?
Durch weitere mikroskopische Untersuchungen konnten Novell und Hungerford zeigen, dass 95 % der Patienten mit chronischer myelotischer Leukämie das verkürzte Chromosom hatten. Der Befund war eindeutig. Damit konnte zum ersten Mal der Zusammenhang zwischen einer DNA-Veränderungen und einer Krebserkrankung gezeigt werden. Das mutierte Chromosom wurde nach der Stadt benannt, in der es entdeckt wurde: Philadelphia. Allerdings war unklar, wie genau das Philadelphia-Chromosom verändert war.
In den 1970er Jahren wurde die Entstehung des Philadelphia-Chromosoms aufgeklärt. Dabei werden Stücke zwischen zwei unterschiedliche Chromosomen ausgetauscht. Und zwar zwischen Chromosom 22 und 9 (Abb. 2). Nummer 9 bekommt ein Stück von Nr. 22 und wird dadurch ein wenig länger. Und Nummer 22 bekommt im Gegenzug ein Stück von Nr. 9. Bei dem Philadelphia-Chromosom handelt es sich um das mutierte Chromosom 22. Ihm fehlt ein Stück seiner ursprünglichen DNA, dafür hat es einen Bereich von einem anderen Chromosom hinzubekommen. Jetzt wusste man, durch welche Mutation das Philadelphia-Chromosom entsteht. Was allerdings noch völlig unklar war: Wie verursacht das mutierte Chromosom die Leukämie-Erkrankung. Erst in den 1980er Jahren waren die molekularbiologischen Verfahren und Erkenntnisse so weit entwickelt, um diese Frage zu beantworten. Auf dem Philadelphia-Chromsom befindet sich ein Krebsgen, das den Bauplan für eine überaktive Tyrosinkinase enthält. Das Enzym wird hergestellt und sorgt für eine übermäßige Zellteilung. Es kommt zur unkontrollierte Vermehrung von weißen Blutkörperchen, die den Körper überschwemmen. Ein einzelnes, fehlgeleitetes Enzym ist der Übeltäter. Das war eine erschreckende Erkenntnis. Und gleichzeitig eine große Chance. Denn es wurde der Ansatzpunkt für eine Therapie gegen die Leukämie.
Weitere Informationen
Smithsonian Magazine: A Triumph in the War Against Cancer
cancer.gov: How Imatinib Transformed Leukemia Treatment and Cancer Research
Scitable: Proto-oncogenes to Oncogenes to Cancer
Fireside Science: Philadephia – the birthplace of cancer genetics
Molecular Cancer: Chronic myeloid leukemia – the paradigm of targeting oncogenic tyrosine kinase signaling and counteracting resistance for successful cancer therapy
Zum Weiterhören: